Bowlelöffel
Mai 2018
Der geschickte Baumeister
Jetzt im Sommer können die Kinder an den Strand und ihre Burgen aus Sand bauen. Aber auch auf den Gassen traf man sich noch regelmäßig zum Hüpfen, Springen und Quatschen. Aber mit was bzw. mit welchen Dingen jedoch spielten die Sylter Kinder während des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und unter der NS-Herrschaft zu Hause? Nur wenige Objekte geben in der Museumssammlung dazu Antworten.
Kaufmannsladen, Puppenstube und Eisenbahn waren sicherlich auch in zahlreichen Sylter Kinderzimmern vorhanden. Aus der Not wurden in den Kriegs- und Nachkriegsjahren auch oft Alltagsobjekte zu faszinierenden Spielsachen umfunktioniert. Neben Stoff-, Holz- und Blechspielzeug befand sich aber auch das Museumsobjekt des Monats, der „Anker Steinbaukasten“ als „weltbekannter Klassiker“ in den Kinderzimmern und heute in der Sammlung der Sölring Museen. Dabei handelt es sich um den Kasten „No. 6A, neu“ der als Ergänzung zum Grundkasten No. 6 aufbaut und somit weitere Möglichkeiten zum Bauen bietet. Und an dieser Stelle beginnt das durchaus komplexe System des Spielens und des Marketings von Friedrich Adolf Richter, der ab 1882 diese Steine produzierte. Erfunden hat er sie nicht, aber er agierte geschickt. Richter kaufte die Erfindung den Brüder Otto und Gustav Lilienthal ab und ließ sich alles patentieren. Erfolgreich baute Richter das Unternehmen auf und lieferte seine Baukästen weltweit an die Kinder des Großbürgertums und eines Tages erfreute sich auch mindestens ein Archsumer Kind über den Steinbaukasten.
Kreativ und pädagogisch wertvolles Spielzeug
Baukästen jeglicher Art hatten unter anderem das Ziel, das Interesse an Berufen wie dem des Architekten oder Ingenieurs zu fördern. Baukästen ermöglichten nicht nur den Nachbau von ganzen Häusern, Fahrzeugen oder Maschinen sondern auch das freie Konstruieren. Ein weiterer Aspekt entwickelte sich im Laufe der Zeit. Waren die ersten Holzbaukästen im 19. Jahrhundert noch ausdrücklich für beide Geschlechter gedacht änderte sich dies jedoch im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Knaben als zukünftige Ingenieure standen nun im Vordergrund. Auch die Steinklötze des „Anker Steinbaukasten“ markieren im weiteren Verlauf diese Entwicklung. In einem Werbeschreiben an seine kleinen Baumeister äußert sich Richter folgend: „Wenn ihr kleine Schwestern habt, dann macht eure Mama darauf aufmerksam, daß in der Richterschen Fabrik Legespiele aus derselben Steinmasse wie die der Anker-Bausteine gefertigt werden. Es sind dies die „Anker-Täfelchen“, die nach dem Urteil angesehener Lehrer das beste und gediegenste Spiel für junge Mädchen sind.“
Die Blütezeit der Metallbaukästen entwickelte sich zwischen den 1920er und 1960er Jahren. Im Kleinen konnten die Knaben zu Hause die vielen neuen Erfindungen wie Kräne und Fahrzeuge der Industrialisierung funktionsfähig nachbauen.
Die Steine von Richter zeichneten sich durch ihre präzise Formgestaltung aus, die nur wenig Abweichung erlaubte. Ausgehend von den reformpädagogischen Ausführungen Friedrich Fröbels entwickelten die Luftfahrtpioniere Brüder Lilienthal aus einer gepressten Masse von Quarzsand, Kalk und Leinölfirnis die Steine, die ein echtes Baugefühl darstellten und den instabilen Holzsteinen um Längen voraus waren. Die Steine gab es in den Farben rot, blau und gelb und in den allen Grundformen und Größen.
Richter als Marketingstratege
Richter setzte sein Produkt werbewirksam ein. Er initiierte eine bis zu diesem Zeit unbekannte Dimension an Anzeigen- und Werbemaßnahmen für seine Kästen. Niemand zuvor verwendete in Deutschland solch großflächig bunte Werbung. Der Konkurrenz gegenüber verstand Richter scheinbar keinen Spaß. Kinder und Erwachsene schwört er auf „das Original“ der Steinbaukästen ein – nur echt mit dem „Anker“ Logo. In seinen Begleitbroschüren zitierte er vermeintliche Leserzuschriften, die sich lobend über die Anker-Kästen äußern. So auch der A. Gilbert aus Stettin, der sich 1896 über den Kauf des Anker Kastens No.15 als Weihnachtsgeschenk für seinen Sohn erfreut. Im Jahr zuvor erwarb er bereits „einen billigen (Concurrenz-) Steinbaukasten […], der aber vollständig wertlos war. Die Steine waren sämtlich nicht gleichmäßig in der Größe gearbeitet und ein größerer Bau nicht ausführbar, weil er regelmäßig vor Fertigstellung zusammenstürzte, da die ungenauen Steine nicht zusammenhielten. [Sein] Junge wurde regelmäßig verdrießlich […] der Zweck war vollständig verfehlt und der Baukasten wurde bei Seite gesetzt.“ Gilbert kaufte dem Sohn den Anker Steinkasten und wurde belohnt: „Das Resultat in diesem Jahre mit ihrem Baukasten ist von ganz entgegengesetzter Wirkung.“ Der Junge „benutzt täglich seine freie Zeit zum Bauen und schreitet an Hand der vorzüglichen Vorlagen rüstig vorwärts. Es ist für uns Eltern eine wirkliche Freude, das Glück und die Genugtuung des Kindes zu beobachten, wenn ein schwieriger Bau gut gelungen ist.“ Richter ging in seiner Überzeugungsarbeit noch einen Schritt weiter. Er richtete seinen Aufruf direkt an die Kinder und forderte sie mehrfach auf, auf den „echten“ Kasten zu achten – auch im Freundeskreis. „Merkt euch gefälligst: je mehr ihr durch Empfehlung für eine größere Verbreitung der berühmten Anker-Steinbaukasten sorgt, umsomehr kann die Fabrik die Herstellung besonders schöner Hefte zu den größeren Ergänzungskasten ausgeben, und um so prachtvoller werden die Bauten, die ihr später aufstellen könnt.“
Richter hält die „Anker Steinbaukasten“ in einem ausgeklügelten Basis- und Ergänzungssystem vor. Ansteigende Nummern führen zu einer Komplexität der Gebäude. Ein fortgeschrittenes Bauwerk aus Kasten 14 wird mit vier bis sechs Stunden Bauzeit veranschlagt.
Inventarnummer: 2015-167
Datierung: um 1900
Material: Holz, Stein
Maße: 32 x 21 x 4,5cm (lxbxh)
Technik: Steinbearbeitung, Holztechnik
Hersteller: F. Ad. Richter & Cie./Ankerwerk Rudolstadt
Standort: Sölring Museen/Sylt Museum, Depot